Auszeit

 

 

 „Atem holen aus der Erde.

Im Dunkel der Nacht

Leuchtet ein Licht auf; aus der Tiefe

Der Erde entsteht neues Leben.“

 Rose Ausländer

 

 

Phasen meditativen Rückzugs, um sich zu besinnen und zu erneuern, sind in unserer westlichen Kultur kaum noch vorgesehen. Vielmehr verschlingt uns oftmals die Zeit. Wir verlieren uns in Aktivitäten, stehen unter Stress, sind überfordert. In unserer verplanten, vermeintlich bestens organisierten Welt ist es daher wichtig, sich immer wieder bewusst fürs Innehalten und Atemholen zu entscheiden.

Das Motiv des Rückzugs stellt eine konstante im menschlichen Bewusstsein dar. Es gab keine Zeit und keine Gesellschaft ohne heilige Zeiten und Räume, ohne Mysterien und rituelles Entfernen vom Alltag. Vor allem in archaischen Kulturen markierten Initiationen wichtige Stationen im Leben, die einhergingen mit einem zeitweiligen Verlassen der Welt.

 

Es lässt sich ein dreistufiges archetypisches Rückszugs-Grundmuster feststellen, das bis zu den Anfängen menschlicher Zivilisationen:

  • das hinaustreten aus dem räumlichen und zeitlichen Alltagsleben
  • die Zeit außerhalb der Zeit, um den inneren Stimmen zu lauschen und sich von überholten und einengenden Überzeugungen zu lösen. Es ist die Zeit der Transformation, in der sich neue Türen zum Sein öffnen – eine Phase des Erwachens zu einem freieren Leben
  • die bewusst gestaltete Rückkehr in den gewöhnlichen Alltag mit gänzlich neuen Erfahrungen, Visionen, Zielen 

Sich für eine Auszeit, sei es ein paar Stunden oder für einen längeren meditativen Rückzug (auch Retreat genannt) zu entscheiden, ist keine Weltflucht.

Von der alltäglichen Routine befreit, besteht vielmehr die Möglichkeit, tiefere Schichten des Selbst zu berühren. Durch die Praxis der Stille oder der Meditation werden innere Freiräume geschaffen, in denen sich Klarheit, neue Einsichten und Achtung vor der Kostbarkeit des Lebens entwickeln können. Wir können uns dabei die edelsten Fragen stellen: Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?

Die meditative Praxis dient dazu, nach und nach eine ganzheitliche Sichtweise des Lebens einzuüben und die daraus gewonnene Gelassenheit in Beziehung und Arbeit einfließen zu lassen.

 

In der Abgeschiedenheit können wir neue Kräfte schöpfen. Atem holen. Einengende Vorstellungen loslassen. Aufatmen. Wir lösen die Saiten alltäglicher Anspannung und erfahren unseren eigenen Rhythmus und unsere eigene Zeit: die alten Griechen nannten einen Moment der Glückseligkeit „Kairos“. „Kairos“ ist die erfüllte Zeit, der günstigste Zeitpunkt oder Zeitabschnitt, zeit-los, im Gegensatz zu „Kronos“, der gleichmäßig fließenden messbaren Zeit. Wir haben Raum, die Lebensfülle zu entdecken, nach der wir uns sehnen. Ein Rückzug ermöglicht tiefe Innenschau, ein Erwachen und Öffnen unserer Herzensqualitäten, die zu innerer Wandlung führen.